Die Mitte März von der Bundesregierung beschlossenen Corona-Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung haben nicht nur die Wirtschaft getroffen, sondern auch die Schulleitungen vor große Herausforderungen gestellt. In den vergangenen Wochen rächt sich die jahrelange Versäumnis beim Ausbau der Digitalisierung an Schulen. Die Leidtragenden sind Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen, aber vor allem jene, die in prekären Verhältnissen aufwachsen müssen. Bei der Umsetzung von Homeschooling bzw. E-Learning offenbaren sich Probleme, aus denen sich neue Chancen ergeben könnten - wenn die Politik den Digitalpakt in Zukunft ohne bürokratische Hürden realisieren kann.
Krise verschärft Chancenungleichheit
Im Hinblick auf die Chancengerechtigkeit ist es ein offenes Geheimnis, dass in Deutschland die soziale Herkunft über den Bildungserfolg entscheidet. Die notwendigen Ressourcen in sozioökonomisch benachteiligten Familien fehlen auch in der Corona-Krise. Nicht jede Familie verfügt beispielsweise über einen Internetzugang, der für das E-Learning unerlässlich ist. Nicht jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, in dem es ungestört an Online-Seminaren teilnehmen kann. Nicht in jedem Haushalt ist mindestens ein Akademiker, der sein Kind oder seine Geschwister bei den Hausaufgaben betreuen kann, weil der analoge Unterricht nicht möglich ist. Während privilegierte Eltern, die im Homeoffice arbeiten, ihre Kinder beim Lernprozess unterstützen können, sind Eltern, die trotz der Corona-Pandemie am Arbeitsplatz sein müssen, mit dieser Situation vollkommen überfordert. Die soziale Schere im Bildungssystem gab es schon immer, doch viele Bildungsforscher befürchten, dass die Leistungsunterschiede während der Corona-Pause größer geworden sind. Sozial besser gestellte Familien können Privatlehrer engagieren, während sozial schwache Familien bei der Bildung ihrer Kinder jeden Cent zweimal umdrehen müssen. Es wächst die Sorge, dass in Familien, in denen ohnehin wenig Wert auf Bildung gelegt wird, Schüler*innen überhaupt nicht mehr lernen. Aus diesem Grund müssen Konzepte entstehen, wie man diese Kinder in den Schulen gezielt fördern kann.
Die Grenzen von Homeschooling
Nach wochenlangem Homeschooling sind wahrscheinlich selbst die größten Optimisten enttäuscht, die mit der neuen Lernkultur neue Möglichkeiten erwarteten. Die Grenzen des Homeschooling sind endgültig erreicht. Denn der digitale Unterricht kann den analogen Unterricht weder in technischer noch in pädagogischer Hinsicht ersetzen. Wie viele Eltern können ihre Kinder in Naturwissenschaften unter die Arme greifen? Oder wie viele Lehrkräfte haben die Möglichkeit, ein Lernort außerhalb der Klasse und des Internets zu schaffen? Zumal die gegenwärtigen Bedingungen dies nicht zulassen. Ob und wie viele Schüler*innen, ausgenommen die Abschlussklassen, die schulfreie Zeit sinnvoll nutz(t)en, kann niemand kontrollieren.
Zwar bieten viele Schulen eine digitale Plattform wie IServ an, wo sogar Videokonferenzen möglich sind, doch Lehrkräfte haben sie vor der Schulschließung selten für Schüleraufträge genutzt. Das Papier hat nach wie vor einen größeren Stellenwert. Für junge Lehrer*innen ist die digitale Welt kein unerforschtes Gebiet. Die ältere Generation jedoch tut sich schwer damit. Wenn man bedenkt, dass 37,8 Prozent der Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen älter als 50 (+ 26,6 Prozent zwischen 40 und 50) sind, ist das kein gering zu schätzender Faktor für das E-Learning. Der Landeselternbeirat der Gymnasien in Schleswig-Holstein bestätigt, dass die meisten Lehrkräfte Aufgaben aus Arbeitsbüchern verschickten und selten digitale Medien einsetzten. Rückmeldungen zu den erledigten Aufgaben gab es überwiegend auch nicht.
Im Ländervergleich schneidet Deutschland in puncto Nutzung von Onlineplattformen deutlich schlechter ab als seine Nachbarländer, wie das Bildungsinstitut IBB feststellt. 82 Prozent der Rektoren in Schweiz geben demnach an, dass an ihren Schulen Onlineplattformen genutzt werden. Die österreichischen Kollegen nutzen solche Plattformen zu 57 Prozent und die Deutschen lediglich zu 43 Prozent. Das bedeutet, dass nicht mal die Hälfte der deutschen Lehrpersonen in der Krise echtes E-Learning organisiert. Somit sind die Schüler*innen und ihre Eltern bei der Bearbeitung der Aufgaben weitgehend auf sich allein gestellt. Außerdem kann Homeschooling das Miteinander und den Wettbewerb untereinander nicht ersetzen - unabhängig vom Einsatz digitaler Medien. Dass die meisten Schulen auf Homeschooling nicht gut vorbereitet sind, hängt mit der Bildungsbürokratie zusammen. Es werden Milliarden für Digitalisierung an Schulen versprochen, doch letzten Endes scheitern die Pläne am Denkmalschutz und Baufirmen nehmen immer seltener Aufträge vom öffentlichen Dienst an. Hinzu kommt, dass die Kosten für die Software bei der Digitalisierung nicht mitgedacht werden. Viele Schulen verfügen über kein ausreichendes Budget, um Lizenzen zu kaufen.
E-Learning an Universitäten
Nach zahlreichen Gesprächen mit Studenten komme ich zu dem Schluss, dass E-Learning an Universitäten überwiegend besser läuft als an Schulen. Mit der Software Zoom werden Videokonferenzen mit den Dozenten und Kommiliton*innen geführt. Zwar beklagen sich viele über den fehlenden sozialen Kontakt und den direkten Austausch über Lerninhalte, doch im Großen und Ganzen zeigt man sich zufrieden.
Vor der Corona-Krise hatten die meisten an der Uni gar keine digitalen Vorlesungen. Es gab nur Präsenzveranstaltungen. Vor jeder Online-Vorlesung bekommt man einen Link zugeschickt, um am Meeting teilzunehmen. Man hat auch die Möglichkeit, die Vorlesungsteilnehmer bei Gruppenarbeiten in Gruppen aufzuteilen. Für Dozenten sei es immer schwer, „gegen einen schwarzen Bildschirm zu reden“, erzählt eine Studentin. Das sei für Dozenten die größte Herausforderung, da sie die Studenten nicht vor sich hätten und nicht wüssten, ob alles verstanden wurde. Deshalb müssten sie bei den meisten Vorlesungen die Kamera einschalten.
Außerdem kann es zu technischen Problemen kommen. Einige mussten ihre mündliche Prüfung über Zoom verschieben, weil Ton und Kamera nicht einwandfrei funktionierten. Abgesehen von technischen Pannen berichten viele, dass sie dem Dozenten in Zoom-Meetings besser folgen können als in überfüllten Vorlesungsräumen. Aktuell hat man zwar keinen Zugang in Uni-Bibliotheken, doch man kann sich per Medienbestellformular Literatur nach Hause schicken lassen oder per VPN-Zugang E-Books herunterladen. Ein weiterer Vorteil ist die Tatsache, dass Dozenten die früher nicht immer per E-Mail erreichbar waren, nun gezwungen sind, regelmäßig ihre Mails abzuchecken, jederzeit erreichbar zu sein und zu antworten. Der Weg zur Universität kostete vielen Studenten, die mit dem Zug oder Auto hin- und herpendeln, viel Zeit, die sie nun gezielt in Homelearning investieren können.
Schrittweise Wiedereröffnung
In vielen Bundesländern wurden die Schulen zunächst für die Abschlussjahrgänge eröffnet. In den aktuellen Abschlussklassen sind rund eine Million Schüler*innen. Wird der Neustart für die 10,9 Mio. Schüler und 44.000 Schulen reibungslos gelingen? Schon vor der Corona-Krise wurde über Lehrermangel, Unterricht in Containern und veraltete Technik geklagt. Die Schulleitungen sollen nun innerhalb kurzer Zeit Lernbedingungen schaffen, an denen sie seit Jahren scheitern.
Bundeskanzlerin Angela Merkel rief die Schulträger Mitte April dazu auf, die hygienischen Voraussetzungen zu schaffen und dauerhaft sicherzustellen. Es fehlen aber Gelder für die Sanierung von Schulgebäuden, Klassenzimmern und Toiletten – und vor allem für den optimalen Ausbau der Digitalisierung. Die Unsicherheit der Lehrkräfte und Schüler*innen ist nachvollziehbar. Die schrittweise Wiedereröffnung der Schulen nach sechs Wochen wird die Defizite aufdecken. Schulen, denen die technische Ausstattung fehlen; Lehrer, die über geringe Digitalkompetenzen verfügen. Im Zeitalter der Digitalisierung werden engagierte Rektor*innen von der Bildungsbürokratie ausgebremst. Die Krise könnte dem deutschen Bildungssystem neue Chancen eröffnen. Spätestens jetzt weiß man, wie es nicht weitergehen sollte. Was allerdings viel wichtiger ist, ist das Bewusstwerden der unterschiedlichen technischen Voraussetzungen der Schüler*innen. Sozioökonomische Ungleichheit im Bildungssystem gab es schon immer, aber in den vergangenen Wochen ist es einigen Schulen klarer geworden, dass durch den Einsatz digitaler Medien bestimmte Schüler*innen aus dem Lernprozess ausgegrenzt werden. Es wurde aber ebenso deutlich, wie digitale Medien eingesetzt werden müssen, damit sich alle am Lernprozess beteiligen können. Wahrscheinlich werden in Zukunft neue digitale Bildungsmedien entwickelt, die besser geeignet sind, um eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft mitzugestalten.