1915: Die Türkei ist bereit, alle Archive zu öffnen
Alljährliche „Armenierfrage“: Die Türkei bietet seit Jahren an, ihre Archive einer unabhängigen Historikerkommission uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Aus Mangel an Kooperationspartnern konnte dies bis jetzt nicht realisiert werden.
Archivbild: Türkische Soldaten (TRT Haber)

Ein Ereignis, das sich vor über einem Jahrhundert abspielte, sollte von Wissenschaftlern beider Völker untersucht und erörtert werden. Die Politik muss sich unparteiisch verhalten. Sie kann jedoch dafür sorgen, dass die historischen Archive geöffnet und die darin befindlichen Materialien den Historikern zur Verfügung gestellt werden. Die Resolutionen, die die verschiedenen Parlamente in den letzten Jahren gefasst haben, dienten vielmehr dazu, die in Teilen politisierte und nicht minder militante armenische Diaspora zufriedenzustellen, statt eine wirkliche Lösung zu finden. Die zentralen Ansprechpartner sind deshalb nicht Lobbyorganisationen oder von diesen beeinflusste Politiker, die diese Vorfälle untersuchen und die Wahrheit ans Tageslicht bringen müssen, sondern Wissenschaftler und Juristen.

Westliche Wissenschaftler, die die Völkermordthese infrage stellen

Manch ein Entscheidungsträger im Westen behauptet, der „Genozid“ an den Armeniern sei der „erste Völkermord des 20. Jahrhunderts“ gewesen. Dieser Satz ist in doppelter Hinsicht unwahr. Zunächst einmal erkennen mehrere Staaten die Tragödie schlicht und einfach nicht als Völkermord an. Diese These wird auch von zahlreichen Wissenschaftlern wie dem französischen Historiker Maxime Gauin, dem amerikanischen Historiker Bernard Lewis oder dem britischen Historiker Norman Stone gestützt. Weitere Wissenschaftler, darunter sowohl Historiker als auch Juristen, etwa die US-Amerikaner Stanford Shaw, Guenter Lewy, Justin McCarthy, Norman Itzkowitz, Brian Williams, David Fromkin, Avigdor Levy, Michael Gunter, Pierre Oberling, Roderic Davison, Michael Radu und Edward Erickson sowie der Brite Andrew Mango oder Franzosen wie Gilles Veinstein oder Italiener wie Stefano Trinchese und Augusta Sinagra sind der Meinung, dass es sich bei den Umsiedlungen keinesfalls um einen Völkermord handelte.

Völkermord war, was in Namibia und Kongo passierte

Und: Auch wenn die Mehrheit der westlichen Politiker davon nichts wissen will, ist die weitgehende Vernichtung der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika [Namibia] zwischen 1904 und 1908 nach einhelliger Ansicht der Wissenschaft als wirklicher Völkermord einzustufen. Zudem hatte die Auslöschung von rund zehn Millionen Afrikanern in der Kolonie Kongo des belgischen Königs Leopold II. bereits in den 1880er Jahren begonnen. Dieser Völkermord endete erst in den Jahren nach 1908, nachdem der König zur Abgabe der Kolonie gezwungen worden war. Zunächst sollten die genozidalen Kolonialverbrechen im 20. Jahrhundert aufgearbeitet werden. Denn manch eine Regierung sitzt heute noch in den Palästen, die mitten in unserer Zivilisation mit dem Blut und dem Leben der Afrikaner errichtet wurden.

Umsiedlungen im historischen Kontext betrachten

Leider muss auch erwähnt werden, dass für die Umsiedlung der Armenier der Oberbefehl bei deutschen Offizieren lag. Die türkischen Truppen wurden damals von deutschen Militärs kommandiert, und Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg hatte die Losung ausgegeben: „Unser Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber die Armenier zugrunde gehen oder nicht.“

Alle Opfer, gleich welcher Religion, haben Recht auf Anteilnahme

Außerdem stellt man des Öfteren fest, dass der Opfer des „Völkermords an Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen“ gedacht wird. Daran beteiligen sich neben Politikern auch Kirchen. Aber wieso wird nur an das Leid der Christen gedacht und beispielsweise nicht auch an den Völkermord in Bosnien und Herzegowina in den 1990er Jahren mitten in Europa, bei dem Tausende muslimisch-bosniakische Jungen und Männer ermordet wurden?

Der Mensch ist wertvoll, weil er ein Mensch ist

Sind nichtchristliche Opfer vielleicht weniger wertvoll? Was ist mit den Opfern in Afrika (Ruanda, Kongo, Somalia usw.)? Wieso gedenkt niemand so ausgiebig wie es jetzt der Fall ist, der Opfer in Syrien, Sri Lanka, Irak, Afghanistan oder Gaza, Tel-Aviv, Xinjiang und Myanmar? Die Tragödien in Teilen dieser Orte werden bezeichnet als „postmoderner Völkermord“, und es wird gefragt, wieso kaum jemand wirksam die Stimme erhebe, wenn im Irak zwischen 665.000 und 1.000.000 Menschen getötet werden. Die versuchte Ausrottung der Aborigines in Australien, der Indianer in den USA und Kanada, der Inka und Ureinwohner in Lateinamerika oder die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki scheinen ebenfalls sehr schnell in Vergessenheit geraten zu sein. Wie ist die Inquisition und Ermordung der Juden in Spanien einzuordnen?

Kreuzzugsmentalität widerspricht der christlichen Nächstenliebe

Eine Art „Kreuzzugsmentalität“ führt hier nicht weiter. Menschen sollten nicht nach Religionen oder anderen Gesichtspunkten klassifiziert werden. Menschen verdienen Achtung allein deshalb, weil sie Menschen sind. Aus diesem Grunde verdienen sowohl Armenier als auch Bosnier, Tutsis, Rohingya, Uiguren, Yeziden, Tamilen, Thraker und sonstige Menschen, die Opfer von Gewalt, Bürgerkrieg oder grausame Verbrechen geworden sind, eine aufrichtige Anteilnahme.

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