Fragen rund um die Person
Was die Lebensdaten Yunus Emres angehen, so ist die Datenlage unterschiedlich. Höchstwahrscheinlich wurde der Dichter gegen 1240 geboren und starb im Jahre 1321. Somit zählen wir in diesem Jahr den 700. Todestag. Auch was Geburts- und Sterbeort angeht, gibt es unterschiedliche Daten. Vermutlich wurde er in Mittelanatolien, in der Nähe des Sakarya-Flusses geboren, und lebte in der Nähe von Nallıhan, einer Gemeinde westlich der Hauptstadt Ankara, im Derwischorden des Tapduk Emres. Darüber hinaus ist er in seinem Leben viel gereist – von Aserbaidschan bis in die Levante –, unter anderem auch in Begleitung seines spirituellen Führers Tapduk Emre. Das Reisen wurde als spirituelles Training der Persönlichkeitsentwicklung gesehen, da man viele Wochen in absoluter Abgeschiedenheit von allem Irdischen und meist ganz allein mit sich und der Natur im Einklang war.
In seiner Kindheit und Jugend genoss Yunus Emre eine hohe religiöse Ausbildung, manchen Quellen zufolge war er sogar Qadi (Richter). Nachdem er sich jedoch seinem spirituellen Führer Tapduk Emre angeschlossen hatte, legte er sein Amt nieder und führte fortan ein Leben als Derwisch. Welchem Sufiorden er angehörte, ist umstritten.
Außerdem beanspruchen diverse Provinzen und Dörfer in der Türkei die Ehre, Todesstätte des großen Dichters zu sein. Aus diesem Grund gibt es viele Mausoleen beziehungsweise Gedenkstätten in Anatolien und selbst in Aserbaidschan, die an Yunus Emre und seinen Einfluss auf die türkische Literatur erinnern.
Werke von und über Yunus Emre
In den Gedichten Yunus Emres wird ersichtlich, dass er für humanistische Werte einstand. Seine Worte drücken eine universelle Liebe zu den Menschen und zu Gott aus. Außerdem betonen sie den Frieden und die Geschwisterlichkeit aller Menschen unabhängig von Rasse und Religion.
Sein Gedankengut ist in zwei großen Hauptwerken hinterlegt. Das erste und berühmteste ist sein Dîvân. Die Bezeichnung Dîvân steht im Orient für eine Gedichtsammlung und stellt somit eine literarische Form dar. Yunus Emres Werk zählt zur ersten größten Prosa-Literatur in türkischer Sprache. Das zweite Werk ist das Risaletü'n Nushiyye (Ratgeberschreiben). Dieses Werk ist in der literarischen Gattung der Masnawī-Form (Zweizeiler) verfasst und besteht aus 573 Versen. Wie der Titel andeutet, besteht es aus Ratschlägen und Empfehlungen.
Im Laufe der Geschichte gab es verschiedene Dichter, die unter dem Namen Yunus oder auch Derwisch Yunus, Miskin Yunus und Aşık Yunus Gedichte verfassten. Es wird vermutet, dass sich mit den Jahrhunderten einige dieser Werke unter die Gedichte Yunus Emres gemischt haben. Dies wird von den meisten Wissenschaftlern als Bereicherung gesehen und zeigt, dass sich mit Yunus Emre und seinen Gedichten eine eigene literarische Tradition in der türkischen Poesie entwickelt hat.
Es gibt türkische Forschungsarbeiten, die anhand einer Analyse der literarischen Sprachmittel versuchen, die Originalgedichte von Yunus Emre zu extrahieren.
Der Dîvân Yunus Emres wurde auch immer wieder von großen Denkern und Dichtern interpretiert und sogenannte Erläuterungen (Şerh) verfasst. Zu den bekanntesten zählen jeweils die Erläuterung von Niyâzî-i Mısrî und İsmâil Hakkı Bursevî.
Im Deutschen hat sich die Orientalistin Annemarie Schimmel (1922-2003) intensiver mit den Gedichten Yunus Emres beschäftigt. Sie hält sich bei ihren Übersetzungen nah an die Prosodie des Originals. In ihrem Werk „Wanderungen mit Yunus Emre“ (Önel Verlag, 1989) bettet sie die Gedichte in Erzählungen ein.
Yunus Emres Einfluss heute
Wie bereits erwähnt, gilt Yunus Emre mit seinen Gedichten als Ausdruck humanistischer Werte. Er wird in der Türkei gerne als Sinnbild eines friedlichen Zusammenlebens aller Menschen herangezogen. In den letzten Jahrzehnten entstanden auf der ganzen Welt türkische Kulturzentren, die diese Werte als Leitbild setzten und daher den Namen Yunus-Emre-Institut annahmen. Mittlerweile gibt es über 40 Institute weltweit; sie können in etwa mit den Goethe-Instituten Deutschlands verglichen werden. Als Vision kann man beispielsweise auf der Internetplattform des Yunus-Emre-Instituts Köln lesen, dass: „es das Ziel unseres Instituts [ist], die türkische Kunst und Kultur weltweit bekannt zu machen und sich für eine Welt voller Frieden und gegenseitigem Verständnis einzusetzen […]. Es ist kein Zufall, dass wir unserem menschenorientierten Institut den Namen Yunus Emre gegeben haben.“ Am Ende heißt es dann noch, dass die Werte Yunus Emres als Grundlage für alle Arbeiten und Projekte des Instituts dienen.
Neben dem Institut in Köln gibt es im deutschsprachigen Raum noch jeweils ein Institut in Berlin und in Wien.
Wer in Wien schon einmal den Türkenschanzpark besucht hat, kennt sicherlich auch den dortigen Yunus-Emre-Brunnen. Er wurde in den 90er Jahren von der Türkischen Republik gestiftet und steht als Zeichen der Freundschaft und Völkerverständigung. Den im osmanischen Stil errichteten Brunnen zieren neben Zitaten Yunus Emres auch Koranverse.
Yunus Emres Gedichte sind heutzutage nämlich vor allem durch die dazu komponierten musikalischen Stücke von Meistern der türkischen Klassik in Erinnerung geblieben. Auf vielen – insbesondere religiösen – Feiern und Veranstaltungen werden immer wieder gerne seine Gedichte gesungen.
Das folgende Gedicht wurde von Annemarie Schimmel ins Deutsche übertragen. Es stellt auf eine schöne Art und Weise sowohl die unendliche Gottesliebe als auch die Naturverbundenheit des Dichters dar:
Mit Bergen und mit Steinen auch
Will ich Dich rufen, Herr, o Herr!
Mit Vögeln früh im Morgenhauch
Will ich Dich rufen, Herr, o Herr!
Mit Fischen in des Wassers Grund,
Gazellen in der Wüste rund,
Mit "Yahu!" aus der Toren Mund
Will ich Dich rufen, Herr, o Herr!
Mit Jesus hoch im Himmelsland,
Mit Moses an des Berges Rand,
Mit diesem Stab in meiner Hand
Will ich Dich rufen, Herr, o Herr!
Mit Hiob, der vor Schmerz versteint,
Mit Jakob, dessen Auge weint,
Und mit Muhammad, Deinem Freund,
Will ich Dich rufen, Herr, o Herr!
Mit Dank und Preis und Lobeswort,
Mit "Gott ist Einer", höchstem Hort,
Barhäuptig, barfuß, immerfort
Will ich Dich rufen, Herr, o Herr!
Mit lesend frommer Zungen Hallen,
Mit Turteltauben, Nachtigallen,
Mit denen, die Gott lieben, allen
Will ich Dich rufen, Herr, o Herr!