Von Burak Altun zum 80. Geburtstag von Massimo Osti
In einem unscheinbaren Viertel am Rande der Altstadt von Bologna hat ein Mann über Jahrzehnte die Welt der Kleidung revolutioniert: Massimo Osti. Seine Experimente mit ungewöhnlichen Stoffen und neuen Färbetechniken schufen futuristische Kleidungsstücke, die ihrer Zeit voraus waren. Seine Innovationen sollten die Branche nachhaltig prägen – auch über seinen Tod hinaus.
Osti selbst mied stets das Rampenlicht. Was der Markt verlangte, war ihm egal. Was auf der Straße getragen wurde, interessierte ihn nicht. Dieser Nonkonformismus wird im Schaffenswerk des italienischen Großmeisters sichtbar.
„Ich bin sicherlich nicht von den Straßen inspiriert. Denn wenn ich auf die Straßen schaue, sehe ich etwas, das bereits existiert.“ (Massimo Osti, Juli 1986)
Vom Grafiker zum Kleidungsingenieur
Seine ersten Gehversuche machte Osti als Grafiker in der Werbebranche. Es dauerte aber nicht lange, bis seine Motive auf Kleidungsstücken zu finden waren. Die Verfahren, die er dabei benutzte, waren gänzlich neu. Nachdem seine erste Kollektion ein durchschlagender Erfolg wurde, gründete er mit dem T-Shirt Hersteller „Trabaldo Togna“ das Label Chester Perry (C.P. Company). Es folgte eine komplette Männer-Kollektion, die von seiner Print-Technik geprägt war.
In den 1980er Jahren erwarb er aus den Niederlanden eine spezielle Maschine, mit der er die Stückfärbung (Garment Dye) in die Textilindustrie einbrachte, wie seine Tochter Agata Osti bei der Führung durch das Archiv erzählt. Anders als bei der klassischen Färbung der Garne wird hierbei das fertige Kleidungsstück gefärbt, wodurch charakteristische Farbnuancen entstehen.
„Wer nicht experimentiert, entdeckt nichts. Oder wenn du nicht forschst, kommst du immer nach den anderen ans Ziel. Und es gibt viele Bereiche, die es zu erkunden gilt – von Formen bis zu Materialien, von Farben bis zur Produktion.“ (Massimo Osti, Juli 1987)
Funktionalität vor Design
Das „Massimo Osti Archive“ im geschichtsträchtigen Bologna wirkt von außen unscheinbar. Farblich und bautechnisch geht es eine Symbiose mit der Altstadt ein. Die Fassaden werden von Rottönen dominiert. Die Säulen, die aus dem Boden ragen, erinnern an die kilometerlangen Arkaden im Stadtzentrum. Hier lassen sich so einige Schätze aus vergangenen Jahrzehnten finden, die man sonst nur schwer zu sehen bekommt.
Tritt man in die heiligen Hallen ein, reihen sich die zahlreichen Kleidungsstücke hintereinander auf. Sie manifestieren unverkennbar eine Faszination für Militär- und Arbeitskleidung.
Massimo Osti schätzte die zweckmäßigen Eigenschaften traditioneller Funktionskleidung, deren Details er an neue Entwürfe adaptierte. Sein grundlegendes Motto lautete: Funktionalität vor Design. Diesem Prinzip blieb er zeitlebens treu. Seine Detailverliebtheit offenbart sich in jedem seiner Entwürfe – ob auf dem Konzeptpapier oder am Stoff selbst. Sein unaufhaltsamer Innovationsdrang führte ihn bis an die Grenzen des Machbaren.
Agata Osti erzählt, dass ihr Vater regelmäßig Sammler beauftragte, die rund um die Welt reisten – immer auf der Suche nach besonderen Kleidungsstücken. Er selbst habe es eher bevorzugt, in seiner Heimatstadt zu leben, zu der er sich verbunden gefühlt habe und für die er sich engagierte. So war er auch als Kommunalpolitiker aktiv.
„Kleidung ist zu teuer, um nur ästhetischen Ansprüchen gerecht zu werden. Sie muss funktional sein und praktisch eine Ewigkeit halten.“ (Massimo Osti, 1990)
Von Innovation zu Innovation
Während die schrillen 80er Jahre einbrachen, sollten die Ideen Ostis schon bald den Rahmen der eher schlichten „C.P. Company“-Linie sprengen. Nun dominierten neue Farben und futuristische Elemente. Auch deshalb erschuf er 1982 das Label Stone Island – ein Jahr nach der Schöpfung des maritimen Labels Boneville.
Nach Experimenten mit neuen Farbtönen und Stoffen wurden progressive Kleidungsstücke für die Ewigkeit geboren. Besonders die Jacken aus den Anfangsjahren genießen heute Kultstatus und wirken immer noch so, als kämen sie aus einer anderen Welt.
Die erste Stone-Island-Kollektion war geprägt durch eine neue Stoff-Innovation namens „Tela Stella“ – eine Transformation von klassischen Planen, die gewöhnlich bei LKWs oder als Abdeckung verwendet werden. Ein Jahr später folgte „Raso Gommato“ – ein wasserabweisender und atmungsaktiver Baumwollstoff.
Die gleiche Funktion wurde ab 1987 mit „Rubber Wool“ bei Jacken aus Wolle erzielt. 1989 kam die „Reflective“-Jacke auf den Markt. Wie der Name bereits erahnen lässt, wurde hierbei mit einem reflektierenden Stoff experimentiert, der im Zusammenspiel mit Licht hell leuchtet. Möglich wird das durch eingearbeitete Glasfasern.
In den 1990erm bis nach der Jahrtausendwende konzentrierte sich Osti unter anderem für eigene Labels wie „Massimo Osti Studio“. Es war die Zeit, in der Osti die modernen Produktionsmethoden in Fernost für sich entdeckte.
1993 rief er das Kultlabel „Left Hand“ ins Leben. Bei diesem Projekt stach besonders die Thermojoint-Jacke hervor, die nicht nur komplett wasserdicht war, sondern auch zu 80 Prozent vor radioaktiver Strahlung schützte. Mit Blick auf die Katastrophe in Tschernobyl war die Jacke eine Reaktion auf urbane Herausforderungen jener Zeit.
„Mein Auftrag lautet stets: Etwas produzieren, was nicht auf dem Markt ist. Unser einziges Risiko besteht darin, nicht verstanden zu werden, weil wir der Zeit voraus sind. Denn oft bringen wir Stoffe und Modelle auf den Markt, die noch nicht vom Markt angenommen werden können.“ (Massimo Osti, Juli 1982)
E-Auto und Mille Miglia
Massimo Ostis Wertschätzung für traditionelle Formen der Ästhetik zeigte sich auch in seiner Autosammlung. Sie bestand aus älteren Modellen mit rundlichen Formen – ganz anders als die eckigen Karosserien der 1970er und 80er Jahre. So fuhr er einen VW Käfer Cabriolet, als er seine spätere Ehefrau Daniela Facchinato kennenlernte – davor einen Citroën DS Pallas und später einen Porsche 365. In seiner Autokollektion tummelten sich aber auch Oldtimer wie ein Traction Avant.
Massimo Osti interessierte sich zudem für umweltbewusste Mobilitätskonzepte und fungierte darüber hinaus als finanzieller Unterstützer solcher Projekte. So sponserte das Massimo Osti Studio ein E-Auto-Projekt des ebenfalls aus Bologna stammenden Erfinders und Architekten Paolo Pasquini.
Dieser hatte 1987 das E-Auto „Boxel P488“ entwickelt. Damit wollte er dazu beitragen, den Stadtverkehr zu revolutionieren. In einem Interview bezeichnet Osti das Vorhaben mit realistischem Blick auf die Gegenwart zwar als „utopisch“, doch er erkannte bereits das Zukunftspotenzial.
Die wohl bekannteste Kollaboration entstand 1988 mit dem historischen Oldtimer-Rennen Mille Miglia (Tausend Meilen) in Norditalien, das 1977 erneut ins Leben gerufen worden war.
Bei der gleichnamigen Jacke, die Osti als Hommage schuf, werden funktionale Accessoires jener Zeit neu interpretiert und integriert. So sind die Gläser in der Kapuze den Rennfahrerbrillen nachempfunden. Das Glasfenster an dem Ärmel soll den Blick auf die Armbanduhr während der Fahrt erleichtern. Das Material der Jacke ist widerstandsfähig und hält widrigen Bedingungen und Schmutz stand. Es sollte dem hohen Anspruch der Fahrer genügen.
„Es ist mir klar geworden, dass es eigentlich keine Grenzen gibt: Man kann immer weiter voranschreiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, Entschlossenheit und Geduld.“ (Massimo Osti, Juli 1987)
Der Kult um Massimo Osti
Intellektuelle, Künstler, Politiker, Avantgardisten subkultureller Bewegungen: Die Kleidung aus den Händen Massimo Ostis ist für manche ein Ausdruck von Understatement, für andere eine Rebellion gegen konformistische Marktgesetzte und kurzlebige Trends. Wie man Ostis Lebenswerk auslegt, ist auch eine Frage der eigenen Weltsicht.
So hatte ein hedonistisch-unpolitischer Paninaro im Mailand der 80er wenig gemeinsam mit einem Vertreter der links-Intellektuellen Szene in Bologna. Doch beide konnten sich mit den Labels von Massimo Osti identifizieren und auch ausdrücken.
Besonders unter den sogenannten Football Casuals genießt Massimo Osti seit den 80ern einen Legendenstatus. Seine Labels waren stilprägend und ein Zeichen der Zugehörigkeit. Auch viele Stilikonen der 80er und 90er Jahre posierten mit Jacken von Stone Island und Co. Vintage-Fotos aus alten Magazinen kursieren heute vielfältig im Netz.
Die Labels von Massimo Osti konnten in der damals noch analogen Welt ihre Exklusivität bewahren. Heute sind die Kleidungsstücke aus der Ära von Massimo Osti gefragte und rare Sammlerstücke – ob neu oder alt, ob zum Anziehen oder Aufbewahren. Weltweit existiert eine eingefleischte Anhängerschaft, die das Erbe von Massimo Osti lebendig hält. Zudem ging im Januar 2024 das Familienlabel „Massimo Osti Studio“ wieder an den Start, das mit neuen Schnitten und Stoff-Innovationen auftrumpft.
Einige der Herstellungstechniken Ostis gelten in der heutigen Kleidungsindustrie als Standard. Seine Philosophie und Ideen prägten auch andere Designer, die seinen Fußstampfen folgen. Als er im Jahr 2005 nach einer Krebserkrankung starb, hinterließ er in Bologna ein beeindruckendes Archiv mit rund 5.000 Kleidungsstücken und rund 50.000 Stoffmustern.
Das Archiv war lange Zeit für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Aktuell leitet seine Tochter Agata Osti das Erbe und öffnet die Tore immer wieder mal für Interessierte. Nirgendwo sonst fühlt man sich dem Erbe Massimo Ostis so nah.
„Ich spiele gerne mit Formen, die nicht zur Geschichte der 20-Jährigen von heute gehören, und verwende Materialien, die dem 20-Jährigen von gestern unbekannt waren.“ (Massimo Osti, April 1988).