TRT Deutsch: Herr Hofmann, worum geht es beim Weltkindertag?
Hofmann: Dieser Tag dreht sich um die Rechte des Kindes. Und wir können in diesem Jahr sogar zweimal groß feiern: 2024 ist nicht nur das 70-jährige Jubiläum des Weltkindertages, den die Vereinten Nationen ausgerufen haben, sondern auch das 100-jährige Jubiläum der Genfer Erklärung für die Rechte des Kindes.
1924 war der Ausgangspunkt, an dem man sagte: Kinder und Jugendliche befinden sich in einer eigenständigen Lebensphase und brauchen besonderen Schutz, besondere Fürsorge und besondere Rechte. Der Weltkindertag macht deshalb auf die besonderen Rechte und Schutzbedürfnisse der jungen Generation aufmerksam.
TRT Deutsch: Wie viele Kinder leben denn aktuell in Deutschland?
Hofmann: In Deutschland wachsen derzeit knapp über 15 Mio. Kinder und Jugendliche auf. Von der Geburtenrate liegen wir mit 1,35 Kindern pro Frau (Erfassungsjahr: 2023; Quelle: Destatis) im unteren Mittelfeld. Das sind sieben Prozent weniger als im Vorjahr. In anderen Ländern wie in Frankreich und Türkiye ist die Rate deutlich höher und auch der EU-Durchschnitt liegt mit 1,46 Kindern pro Frau leicht darüber. Es gibt somit weiterhin einen Rückgang der Kinderzahl.
In anderen Ländern ist die Geburtenrate sogar noch niedriger. In Südkorea beispielsweise gibt es einen drastischen Trend, dass immer weniger Kinder geboren werden. So gesehen kann man zumindest positiv feststellen, dass wir in Deutschland keine großen Schwankungen haben – sondern eine durchgehend niedrige Geburtenrate.
TRT Deutsch: Worauf führen Sie den Geburtenrückgang zurück?
Hofmann: Ich glaube, dass sich in Deutschland viele Paare und Eltern um die Zukunft sorgen, in der ihre Kinder aufwachsen werden. Weltweite Kriege, Klima- und Bildungskrise verstärken diese Sorge noch. Für viele spielt es außerdem sicherlich eine Rolle, dass die finanzielle Absicherung prekärer geworden ist. Und in vielen Familien arbeiten beide Eltern, was oftmals dazu führt, dass der Kinderwunsch erst spät entwickelt wird und dann de facto auch nicht so viele Kinder in den Familien leben. Die Ein-Kind-Familie wird immer häufiger.
TRT Deutsch: Wie wächst ein deutsches Kind im Durchschnitt auf?
Hofmann: Auch wenn bei den gelebten Familienmodellen in Deutschland die Ein-Kind-Haushalte die häufigste und die Zwei-Kind-Haushalte die zweithäufigste Lebensform sind, so fällt vor allem eine Sache ins Auge: Es gibt inzwischen auffällig viele Ein-Eltern-Familien, also Alleinerziehende. Für diese ist es oft besonders schwer, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu sichern. Was wir auch feststellen müssen: Wir haben in Deutschland zwar einen Rechtsanspruch auf den Kitaplatz. Dieser kann aber nicht überall verwirklicht werden. Das macht vielen im Vorfeld Sorge.
TRT Deutsch: Welche Gründe sehen Sie für die niedrige Geburtenrate noch?
Hofmann: Ein weiterer Trend lässt sich außerdem als Ursache erkennen: Das Interesse, sich selbst zu verwirklichen und zu entwickeln. Dieser gesamtgesellschaftliche Wunsch ist aktuell sehr hoch. Die Bereitschaft, sich selbst in den Dienst der Familie und der Gesellschaft zu stellen, sinkt und die persönlichen Interessen rücken für viele in den Vordergrund. Das belastet junge Familien, die den Wunsch der Selbstverwirklichung natürlich auch haben und gleichzeitig durch ihre Kinder sehr gebunden sind. Die moderne Industriegesellschaft bietet uns einerseits die Möglichkeit, uns beruflich und privat zu entfalten – aber das ist auch eine Herausforderung, denn es kollidiert an vielen Stellen mit dem veränderten Alltag, der durch Kinder entsteht.
TRT Deutsch: Welchen Herausforderungen stehen Kinder heutzutage noch gegenüber?
Hofmann: Durch die hohe Mobilität in der Berufswelt wird die klassische Familienform immer seltener und viele Familien werden auseinandergerissen. Eltern sind dann ganz auf sich gestellt. Während sich in Ländern wie Türkiye die ganze Großfamilie mit um die Kinder kümmert und die Eltern unterstützt, ist in Deutschland die Kleinfamilie in der Regel auf sich allein gestellt und kommt an ihre Belastungsgrenzen. Gemeinsames Erziehen bringt eben auch eine gewisse psychologische Entlastung. Wer dagegen bei jeder Krankheit und Herausforderung selbst die Lösung finden muss, ist weniger gelassen und macht sich verstärkt Sorgen.
TRT Deutsch: Gibt es Trends in der aktuellen Kindererziehung?
Hofmann: Ja. Das hohe Maß an Ängsten, das in vielen deutschen Familien vorhanden ist, drückt sich oftmals in einer Überbehütung der Kinder aus. Das ist jedoch eher nachteilig für Kinder, weil diese Freiräume entwickeln und auch mal unbeaufsichtigt mit Gleichaltrigen spielen und unterwegs sein wollen. Ist ein Kind ständig mit seinen Eltern unterwegs, verändert dies das Kindsein. Die Deutschen beklagen an vielen Stellen die Unselbstständigkeit von Kindern. Die rührt jedoch auch daher, dass die Kinder zu sehr an die Hand genommen werden von überfürsorglichen Eltern, die sie auf Schritt und Tritt begleiten. Wo das nicht geht, ist dann immer das Handy dabei. Auf diese Weise versucht man jegliche empfundene Unsicherheit zu verhindern. Besser ist es dagegen, die eigenständige Entwicklung von Kindern zu fördern, indem man sie z.B. selbst zur Schule laufen lässt.
TRT Deutsch: Wie hängen Armut und Bildung für Kinder miteinander zusammen?
Hofmann: Die Pandemie war wie ein Brennglas auf die aktuelle Situation der Kinder: Wir haben Familien erlebt, die beengt wohnen, schlechten Internetanschluss haben, und solche, in denen Eltern eine gewisse Distanz zur Schule haben und ihre Kinder nicht so gut begleiten können. Dort haben die Kinder große Bildungsrückstände entwickelt und konnten z.B. auch dem digitalen Unterricht nicht gut folgen. Auf der anderen Seite haben wir Familien erlebt, in denen sich die Kinder trotz Pandemie gut entwickeln konnten: Familien, die einen Garten haben oder viel Bewegung, Kontakt mit der Natur, gesunde Ernährung und Bildungsvermittlung ermöglichen konnten. Das zeigt, dass wir in Deutschland eine Spaltung haben zwischen Familien, die durch wirtschaftliche Belastung und beengte Wohnräume in der Kleinfamilie oder alleinerziehend auf sich gestellt sind und denen, die viele Möglichkeiten haben, ihre Kinder mit guten Rahmenbedingungen zu unterstützen. Letztere entwickeln sich in der Schule meist besser.
TRT Deutsch: Sind nicht auch Medien heute für viele Eltern ein Problem?
Hofmann: Zweifelsohne. Bei Familien mit hohem Einkommen gibt es teilweise die sogenannte Wohlstandsverwahrlosung, bei der sich niemand um die Kinder kümmert. Abgesehen von diesem Randphänomen sind Medien ganz allgemein heute eine große Herausforderung für Eltern: Kinder werden durch Medien schnell angesprochen und gebunden. Wie bei allem ist jedoch die Dosis entscheidend. Das Übermaß ist ungesund! In dem Moment, wo sich Eltern aus der Verantwortung zurückziehen und nicht nachvollziehen können, wie hoch die Medienaffinität ihrer Kinder ist oder gar nicht wissen, was die Kinder an Smartphone oder Tablet treiben, entstehen Abhängigkeiten und Probleme beim Medienkonsum.
TRT Deutsch: Sehen Sie Lösungsansätze dafür?
Hofmann: Eltern können tatsächlich einiges tun. Indem sie sich die Zeit nehmen, den Kindern auch andere Erfahrungen zu bieten, können Kinder ein ausgewogenes Medienverhalten entwickeln. Die Kinder können z.B. darin unterstützt werden, in einen Sportverein zu gehen, ein Instrument zu lernen und Bücher zu lesen. So können sie Medien besser einordnen und sich auch leichter von der Medienrealität lösen. Geschieht das nicht, können Kinder oft nicht mehr so gut zwischen der Welt, die sie in den Medien erleben, und der realen Welt unterscheiden. Wenn das Kind keine Alternativen kennt, bleibt es in der Regel beim attraktiven Medienkonsum. Das Problem dabei: die Informationen sind einseitig, es werden bestimmte Rollen und Schönheitsideale geprägt. Viele Kinder eifern dem dann nach und entwickeln Frustrationen.
TRT Deutsch: Auf welche Kinder in Deutschland müssen wir besonders achten?
Hofmann: Auf geflüchtete Kinder und Jugendliche. Ihre Rechte sind besonders stark bedroht. Bei der Migrationsdebatte vergessen wir in Deutschland gern, dass Kinder ein besonderes Schutzbedürfnis haben und nicht in dieselbe Verantwortung gezogen werden dürfen wie Erwachsene. Daher trägt der heutige Weltkindertag auch das Motto „Mit Kinderrechten in die Zukunft“.
TRT Deutsch: Worum geht es beim diesjährigen Motto des Weltkindertages?
Hofmann: Wir wollen aufzeigen, dass wir trotz Klimakrise, Kriegen und anderen tagespolitischen Ereignissen alles unternehmen müssen, um die Zukunft für unsere Kinder abzusichern. Dazu zählen auch Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Diese Themen fallen meist hinten runter – und mit ihnen die Interessen der Kinder. Wir dürfen uns nicht wundern, dass für viele Kinder Medien in den Vordergrund rücken, wenn wir die Mittel für Jugendarbeit, Kultur und Bibliotheken kürzen. Deutschland hat ein breites Angebot für Kinder und Jugendliche und braucht diese Vielfalt auch weiterhin: Jugendverbände und -bibliotheken, Schwimmbäder und Freizeithäuser. Zwar ist die Bereitstellung primär Aufgabe der Kommunen, aber Bund und Länder können und müssen für deren finanzielle Entlastung sorgen.
TRT Deutsch: Wo findet man Sie beim Weltkindertag 2024?
Hofmann: Das DKHW hat zusammen mit UNICEF ein überdimensional großes Puzzle vorbereitet, das deutschlandweit viele Gruppen, die mit Kindern arbeiten, vorbereiten und in deutschen Städten bei Veranstaltungen präsentieren – wie zum Beispiel vor dem Bundestag in Berlin. Jedes Puzzleteil beschäftigt sich mit einem speziellen Recht für Kinder. Mit dieser politischen Aktion senden wir die Botschaft aus: Es gibt mit der UN-Kinderrechtskonvention eine große Vielzahl an unterschiedlichen Kinderrechten, z.B. das Recht auf Beteiligung, auf Privatsphäre, das Recht auf Spielen oder auf Informationszugang zu unterschiedlichen Medien.
TRT Deutsch: Wie können sich Kinder beim DKHW engagieren?
Hofmann: Wir unterstützen regionale und überregionale Formen der Kinder- und Jugendbeteiligung, z.B. Kinder- und Jugendparlamente. Außerdem gibt es bundesweit Veranstaltungen wie Kinder- und Jugendtreffen und einen Kinder- und Jugendbeirat im Deutschen Kinderhilfswerk, der uns bei unserer Arbeit berät.
Über das Deutsche Kinderhilfswerk
Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) setzt sich seit mehr als 50 Jahren für die Rechte von Kindern in Deutschland ein. Besonders beschäftigt sich die Kinderrechtsorganisation dabei mit den Schwerpunkten Armut und Beteiligung und stellt dabei die Interessen der Kinder in den Mittelpunkt. Die Vision: Kinder und Jugendliche sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Interessen öffentlich und, wo möglich, auch in der Politik zu äußern und zu vertreten. Als Spendenorganisation reicht das DKHW seine Einnahmen an kleine Projekte weiter, welche die Arbeit mit den Kindern ausgestalten (www.dkhw.de).