Die Leistungen und Erfahrungen der sogenannten Gastarbeitergeneration sollten nach Ansicht von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Zukunft stärker gewürdigt werden. Diese von Optimismus, Mut und Durchhaltewillen geprägten Geschichten sollten „einen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern und in unserer Erinnerungskultur“ erhalten, sagte er am Dienstag in Berlin bei einem Festakt zum 60. Jahrestag der Vereinbarung, mit der einst die Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland organisiert worden war. „Nehmen Sie sich den Platz, der Ihnen zusteht“, forderte der Bundespräsident die Besucher der Festveranstaltung auf.
Wider „engstirnigen Nationalismus und kulturellen Hochmut“
Die deutsche Gesellschaft sei viel zu spät bereit gewesen, ihre Sicht auf die ursprünglich nur als Zuwanderer-auf-Zeit angesehenen Menschen zu ändern, von denen viele dann doch dauerhaft blieben, sagte Steinmeier. „Vieles ist dadurch liegengeblieben, und ich glaube, durch das Liegenbleiben sind viele Probleme überhaupt erst entstanden“, sagte Steinmeier.
Denn Anerkennung, der Respekt voreinander und Neugier auf eine andere Kultur auf beiden Seiten seien nötig, um Vorbehalte oder gar Ängste zu überwinden. Er fügte hinzu: „Die Bereitschaft, engstirnigen Nationalismus und kulturellen Hochmut hinter sich zu lassen, auf andere zuzugehen, sich aufeinander einzulassen, voneinander zu lernen, das ist die beste Voraussetzung für ein friedliches Miteinander und für eine bessere Zukunft.“
Botschafter Şen erinnerte an die rassistischen Übergriffe
Der türkische Botschafter in Berlin, Ahmet Başar Şen, erinnerte in seiner Rede an die Opfer rassistischer Übergriffe. Bisher seien mehr als 50 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund davon betroffen. Die Anschläge von Solingen, Mölln, Hanau sowie die NSU-Mordserie seien die bekanntesten Fälle davon. Nach Ansicht vieler türkischer Einwanderer sei die Bedrohung durch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und antimuslimischen Hass das größte Sicherheitsrisiko.
Aber nicht nur Türken und Muslime, sondern auch viele andere Minderheiten seien täglicher Diskriminierung ausgesetzt. Jede Form von Hass und Diskriminierung gegen Muslime, Türken, Juden und andere Minderheiten müsse entschieden bekämpft werden, betonte der türkische Botschafter.
Es sei wichtig, dass sich die in Deutschland lebenden Türken anpassten. Integration brauche aber Partizipation, Partizipation brauche Bildung und Bildung brauche Akzeptanz und Gleichberechtigung, betonte Şen in seiner Rede.
Anwerbeabkommen und die Geschichte der Arbeitsmigranten
Am 30. Oktober 1961 hatte Deutschland mit der Türkei ein Abkommen zur Anwerbung von Arbeitern abgeschlossen, so wie zuvor bereits mit Italien, Griechenland und Spanien. Ursprünglich sollte keiner der aus der Türkei angeworbenen Arbeiter länger als zwei Jahre bleiben. Deshalb gab es anfangs auch keine Möglichkeit, die Familie mitzubringen. Die Arbeitsmigranten, die man damals „Gastarbeiter“ nannte, schliefen oft in Mehrbettzimmern, viele schickten einen Großteil ihres Lohns zu ihren Familien in die Türkei. Auf Druck der Wirtschaft, die ihre bereits angelernten Kräfte nicht alle zwei Jahre durch Neuankömmlinge ersetzen wollten, wurde das Rotationsprinzip später aufgegeben und der Familiennachzug gestattet.
TGD feiert zugleich 25-jähriges Jubiläum
Zu den Veranstaltern des Festaktes gehört auch die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD), die mit einer durch die Pandemie bedingten Verzögerung am Dienstag zugleich ihren 25-jährigen Geburtstag feierte. Der Dachverband war 1995 gegründet worden - auch als Reaktion auf rassistische Ausschreitungen und Anschläge wie in Mölln und Solingen. TGD-Funktionäre der ersten Jahre erinnerten an das Engagement des Verbandes für die doppelte Staatsbürgerschaft.
TGD-Vorsitzender bedankt sich bei Nachbarn von Uğur Şahin
Ein weiterer Schwerpunkt der Mitgliedsvereine sind bis heute Maßnahmen zur Verbesserung von Bildungschancen der Kinder und Enkel von Einwanderern aus der Türkei. Einen Seitenhieb kann sich der TGD-Vorsitzende Gökay Sofuoğlu beim Festakt nicht verkneifen. „Wir danken explizit den Nachbarn von Uğur Şahin“, sagt er. Der Biontech-Chef Şahin ist Sohn von „Gastarbeitern“. Er hatte in der Grundschule zunächst keine Empfehlung für das Gymnasium erhalten. Erst nach der Intervention eines Nachbarn konnte er die angestrebte Schule besuchen. Er schloss als Jahrgangsbester ab.
Darüber, wie die Menschen, die damals aus der Türkei gekommen sind, und ihre Nachkommen Deutschland verändert haben, ist viel geschrieben worden. Über überforderte Grundschullehrerinnen, die nicht wussten, wie Sprachförderung funktioniert, aber plötzlich viele Kinder in ihren Klassen hatten, die nur Türkisch sprachen. Und darüber, wie es ist, wenn Herr Yildirim nicht zum Bewerbungsgespräch oder zur Wohnungsbesichtigung eingeladen wird, und sich fragt, ob er als Herr Schmitz womöglich bessere Chancen gehabt hätte.
Doch auch in vielen Dörfern, aus denen die „Gastarbeiter“ auswanderten, sind die Folgen der Veränderung, die das Anwerbeabkommen damals ausgelöst hat, bis heute sichtbar. In Stein und Beton lässt sich der materielle Aufstieg der Auswanderer dort besichtigen - auch wenn die Erbauer dieser Häuser oft einen Großteil ihrer Zeit bei Kindern und Enkeln in Deutschland verbringen.