„Spitze des Eisbergs“: EKD-Studie zu Missbrauch stößt auf Kritik
Die Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche hat laut Studienautoren nur einen Bruchteil der Fälle aufgearbeitet. Der Grund: Die Landeskirchen sollen die Herausgabe vieler Akten verweigert haben. Die Opfer fordern nun eine staatliche Aufarbeitung.
Symbolbild. Eine Kirchturmspitze im Gegenlicht / Photo: DPA (DPA)

Eine von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragte Studie zur Untersuchung von Missbrauchsfällen hat nach Einschätzung der Studienmacher nur eine stark eingeschränkte Aufklärung zur Zahl der Fälle erbracht. Es sei wegen der nur geringen Zahl der von den Landeskirchen zur Verfügung gestellten Akten allenfalls „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ aufgearbeitet worden, sagte Studienmacher Martin Wazlawik am Donnerstag bei der Präsentation in Hannover. Missbrauchsopfer warfen den Landeskirchen eine bewusste Verweigerung vor.

Aus den Akten ergibt sich demnach eine Zahl von 1259 Beschuldigten im Bereich von evangelischer Kirche und Diakonie sowie eine Zahl von 2225 Missbrauchsfällen. Dem Forschungsverbund standen aber deutlich weniger Akten zur Verfügung als etwa den Studienmachern der katholischen Studie zum sexuellen Missbrauch. So legte nur eine von 20 Landeskirchen umfassend Personalakten vor.

Wie der ebenfalls zu den Studienmachern zählende Mannheimer Forscher Harald Dreßing sagte, dürfte die Zahl der tatsächlichen Opfer nach einer - allerdings spekulativen - Hochrechnung bei 9355 sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen liegen. Das wären viermal so viele wie erfasst. Ursprünglich war die evangelische Kirche von 900 Opfern ausgegangen. Die Zahl der Beschuldigten würde nach der Hochrechnung bei fast 3500 liegen, fast dreimal so viele wie in der Studie erfasst.

Studienmacher Dreßing bewertete die Aufarbeitung in der evangelischen Kirche als schlechter als die immer wieder kritisierte Aufarbeitung in der katholischen Kirche. „Wenn man die Schwesterkirchen vergleicht, das hat die EKD schlechter hinbekommen“, sagte er. Dabei sei eine umfassende Lieferung von Akten vertraglich vereinbart gewesen. Durch die „schleppende Zuarbeit“ der Landeskirchen sei das Forschungsvorhaben zum Missbrauch aber nicht vollständig umzusetzen gewesen.

Missbrauchsopfer: „Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung“

Katharina Kracht, die als Jugendliche in den 80er Jahren von einem Pfarrer missbraucht worden war, zeigte sich bei der Präsentation massiv enttäuscht von den Landeskirchen. „Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung.“ Kracht kritisierte insbesondere auch den früheren EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm aus Bayern. Dieser habe die Aufarbeitung immer wieder verschleppt und erst 2021 kurz vor Ende seiner Amtszeit auf die Agenda gesetzt - dabei sei das Phänomen durch den katholischen Missbrauchsskandal seit 2010 bekannt gewesen.

Kracht forderte, den Kirchen die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen nicht weiter zu überlassen. Die staatlichen Einrichtungen wie die Unabhängige Aufarbeitungskommission müssten dies übernehmen. „Dort liegen die Kompetenzen, die wir brauchen.“

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte, im Licht immer neuer Erkenntnisse durch institutionelle Aufarbeitungsprozesse in den Kirchen werde deutlich, welche wichtige Rolle das Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs spiele. Deshalb wolle sie das Amt dauerhaft absichern.

Die EKD-Ratsvorsitzende, die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, sagte, trotz der Kritik an der Unvollständigkeit bringe die Studie der evangelische Kirche wichtige Erkenntnisse für die weitere Aufarbeitung. So zeige sich, dass das föderale System der evangelischen Kirche dazu führe, dass oftmals keine Verantwortung übernommen werde. Außerdem fehlten Standards für die Dokumentation von Missbrauch - das seien „absolut wichtige Rückmeldungen“.

Evangelische Kirchenvielfalt erschwert ebenfalls Aufarbeitung

Der zu den Studienmachern zählende Hannoveraner Forscher Wazlawik kritisierte als ein Ergebnis der Studie die negativen Folgen der heterogenen Struktur der evangelischen Kirche für Missbrauchsopfer. Diese führe dazu, dass mit den Betroffenen unterschiedlich umgegangen werde. „Das heißt, diese vielbeschworene evangelische Vielfalt hat hier ganz konkrete, oft nachteilige Folgen für die Betroffenen.“ So seien Verantwortlichkeiten häufig nicht klar erkennbar.

Ein unabhängiger Forschungsverbund unter dem Dach der Hochschule Hannover hatte in den vergangenen Jahren in mehreren Teilstudien unter anderem die Erfahrungen von Betroffenen, den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche und die Häufigkeit solcher Fälle untersucht.

Die Missbrauchsstudie war im Jahr 2020 durch einstimmigen Beschluss der 20 Landeskirchen auf den Weg gebracht worden. Dabei waren nicht nur Pfarrer im Blick, sondern auch andere haupt- und nebenberufliche Mitarbeitende sowie Ehrenamtliche. Die Kosten der Untersuchung belaufen sich auf rund 3,6 Millionen Euro.

AFP