Oberlinhaus-Prozess: War Einrichtung chronisch unterbesetzt?
Der bisherige Fokus im Prozess um die Gewalttat am Potsdamer Oberlinhaus weckt den Eindruck, die Angeklagte selbst sei das Opfer. Am Montag startete am Landgericht die zweite Hälfte des Prozesses.
Symbolbild: Richterhammer (DPA)

Der Prozess um die Tötung von vier Schwerstbehinderten am Potsdamer Oberlinhaus wurde am Montag fortgesetzt. An den ersten fünf von insgesamt zehn geplanten Verhandlungstagen ging es hauptsächlich um Überlastung durch Personalmangel und psychische Belastungen der Angeklagten. Kolleginnen von Ines R. berichteten über hohe Belastungen durch Unterbesetzung und Druck der Leitung bei Krankschreibungen.

Die Gewalttat im Potsdamer Oberlinhaus sorgte Ende April deutschlandweit für Entsetzen. Der Tat waren vier Menschen zum Opfer gefallen, eine fünfte Bewohnerin überlebte schwer verletzt. Die angeklagte langjährige Mitarbeiterin berichtete vor Gericht über ihre psychischen Beeinträchtigungen und Personalmangel in der diakonischen Einrichtung. Die 52-Jährige muss sich wegen Mordes und weiterer Straftaten verantworten. Die Staatsanwaltschaft geht von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit aus.

Widrige Arbeitsbedingungen

Eine der Zeuginnen kündigte nach eigenen Worten sogar ihren Vertrag als Pflegerin, da sie die Tätigkeit unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr mit ihrem Gewissen habe vereinbaren können. Andere sagten vor dem Hintergrund des allgemeinen Pflegekraftmangels aus, eine hohe Arbeitsbelastung sei üblich. So entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass das Oberlinhaus in erheblichem Maß mitverantwortlich für die Tat sein könnte.

Jedoch habe der Arbeitgeber nicht das Verhalten der Arbeitnehmer zu verantworten, warf die Anwältin der Nebenklage, Beatrice Vossberg, ein. Sie vertritt die Eltern eines Todesopfers. Für das strafrechtliche Verfahren sei die Arbeitsbelastung nicht relevant, argumentierte Vossberg. Diese spiele allenfalls für das Gutachten über die mutmaßlich eingeschränkte Schuldfähigkeit eine Rolle. Bei Strafverfahren gehe es ausschließlich darum, wer eine Tat begangen habe und wer möglicherweise dazu angestiftet oder daran teilgehabt habe.

Die Angeklagte Ines R. äußerte sich bislang nicht zur Tat. Unabhängig davon, ob sie sich daran erinnere oder nicht, fehle jede Verantwortungsübernahme, moniert die Anwältin der Nebenklage.

Erinnerungen fehlen

Ines R. fehlt in ihrer Erinnerung an den Tattag ihrem Verteidiger Henry Timm zufolge ein gewisser Zeitraum. Sollte die Erinnerung zurückkehren, könnte möglicherweise auch der Auslöser gefunden werden, mutmaßt der Anwalt. Derzeit sei sie nicht in der Lage, sich zur Tat zu äußern, sagt er unter Hinweis auf die seines Erachtens falsche Medikation in der psychiatrischen Einrichtung, in der sie derzeit untergebracht ist.

Wenn die Einrichtung tatsächlich chronisch unterbesetzt gewesen sein sollte, wäre es die Pflicht der Arbeitnehmer gewesen, den medizinischen Dienst oder das Sozialamt zu informieren, sagt die Vertreterin der Nebenklage: „Warum hat man nicht mal die Angehörigen informiert, dass es den Klienten so schlecht geht?“ Ein solches System könne nur funktionieren, wenn die Arbeitnehmer es mittrügen.

Selbst wenn die Hausleitung von den psychischen Problemen der Angeklagten gewusst haben sollte, sei offen, welche Maßnahmen daraufhin hätten ergriffen werden müssen. Der damals zuständige Pflegeleiter Sven L. berichtete ebenso wie eine von Angehörigen engagierte Betreuerin über Auffälligkeiten im Aussehen und Verhalten der Angeklagten am Tattag. Nach beider Aussagen antwortete Ines R. auf Nachfrage aber, es gehe ihr gut. Auch ihr Ehemann hatte von einer Verschlechterung ihres Zustandes vor der Tat berichtet. Er hatte geplant, sie am Tag nach der Tat zu einem Termin bei der behandelnden Psychiaterin zu begleiten.

epd