Experten warnen vor gefährlichen Falschinformationen im Krieg gegen Gaza. Mohammed Sendik kann davon aus eigener Erfahrung berichten: Der 16-jährige Palästinenser, dem vor einigen Monaten nach einem israelischen Angriff ein Bein amputiert wurde, entdeckte im Internet ein altes Video von sich. Darin wird er fälschlich im einen Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza gestellt wurde. Sendik ist eines von vielen Opfern des Propagandakrieges.
Sowohl Palästinenser als auch Israelis werden teils als „Krisendarsteller“ verunglimpft, die Verletzungen und Todesfälle vortäuschten, um Mitgefühl zu gewinnen und die jeweils andere Seite zu dämonisieren. So ist es auch Mohammed Sendik passiert. Ein altes Video, das ihn nach der Amputation im Krankenhaus zeigt, wurde im Internet als Aufnahme präsentiert, die angeblich einen palästinensischen Blogger im Gazastreifen zeigt, der über die israelischen Angriffe im Gazastreifen berichtet.
Sendik nach Fake-News beschimpft und bedroht
Die Posts verbreiteten die Falschbehauptung, der Blogger habe die Verletzungen nur inszeniert, sei kurz danach aber unverletzt herumgelaufen - was ein anderes Video belegen sollte. „Palästinensischer Blogger ‚wundersam‘ nach einem Tag von ‚israelischer Bombardierung‘ geheilt“, schrieb ein israelischer Influencer in einem millionenfach angeklickten Beitrag auf X (ehemals Twitter) zu den Aufnahmen. „Gestern lag er noch im Krankenhaus, heute kann er wieder gehen, als wäre nichts passiert.“
Doch in den Beiträgen wurden Bilder von zwei verschiedenen Personen miteinander vermischt, wie ein Faktencheck der AFP zeigt. Die eine Aufnahme zeigt demnach Sendik, der nach Angaben seiner Familie im Juli bei einem israelischen Armeeeinsatz im besetzten Westjordanland sein Bein verloren hatte. Bei der anderen Person handele es sich um den Video-Blogger Saleh Aljafarawi aus dem Gazastreifen.
Die Posts mit der Falschbehauptung verbreiteten sich im Internet, die Auswirkungen bekam Sendik zu spüren. In Kommentaren im Internet wurde er beschimpft, manche Kommentatoren fragten, warum ihm die Ärzte nicht auch sein zweites Bein abgenommen oder ihn getötet hätten. „Ich fürchte um das Leben meines Sohnes“, sagt Sendiks Vater Jusef Issam Fandkah AFP. „Er könnte wegen dieser Lüge getötet werden.“
„Zweifel am Leid übliche Desinformationstaktik in Krisen“
Menschen fälschlicherweise zu beschuldigen, ihr Leiden zu inszenieren, habe sich zu einer üblichen Desinformationstaktik in Krisen entwickelt, sagt Mike Caulfield, der an der University of Washington Online-Falschmeldungen untersucht. Nach der jüngsten Gewalteskalation im Nahost-Konflikt häufen sich solche Darstellungen massiv, was Experten zufolge auch daran liegt, dass Plattformen wie X (vormals Twitter) Inhalte inzwischen weniger streng kontrollieren.
In vielen Beiträgen, die das Leid der Menschen im Gazastreifen herunterspielen, ist von „Pallywood“ die Rede - eine herabwürdigende Bezeichnung, welche die Begriffe Palästina und Hollywood verbindet. „Dieser Trend entstand in den ersten Tagen des Krieges mit einem Video, das einen Blick hinter die Kulissen eines Filmsets zeigte und in dem behauptet wurde, Palästinenser würden Verletzungen fingieren“, sagt Yotam Frost von FakeReporter, einer israelischen Beobachtungsstelle für Desinformation.
Faktenprüfer entlarven Behauptungen
Faktenprüfer entlarvten mehrere Behauptungen über angebliche „Krisendarsteller“; oft wurden für diese Fälschungen alte Bilder und Aufnahmen von völlig anderen Orten verwendet. Offizielle israelische Accounts auf X, darunter auch solche von Botschaften, behaupteten zum Beispiel fälschlicherweise, ein Video eines toten palästinensischen Kindes zeige in Wirklichkeit nur eine in Stoff gewickelte Puppe.
Andere Nutzer stellten Aufnahmen eines Protests in Ägypten von 2013 in den aktuellen Kontext, und ein Video von einem Bestatter-Ausbildungskurs in Malaysia wurde missbraucht um zu behaupten, Palästinenser würden sich nur tot stellen.
„Wenn man glaubt, dass diese Toten inszeniert sind, wird man unempfindlicher oder skeptischer gegenüber den Grausamkeiten des Krieges“, sagt Alessandro Accorsi von der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group. „Es ist äußerst entmenschlichend. Das zielt eindeutig darauf ab, Zweifel an den zivilen Todesopfern zu säen und Unterstützung für mehr Gewalt und Angriffe zu sammeln.“