Prof. Dr. Stefan Reindl lehrt September 2003 als Professor für Automobilwirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen. Zudem ist er Direktor (CEO) und Studiendekan am Institut für Automobilwirtschaft in Geislingen.
Im Gespräch mit TRT Deutsch erläutert der Experte Ursachen und Wirkungen der derzeitigen Lieferverzögerungen, Preissteigerungen und Unterbrechungen globaler Lieferketten, die sich in Deutschland unter anderem in der Automobil- und der Elektronikbranche bemerkbar machen.
Zahlreiche Branchen leiden derzeit unter Unwägbarkeiten innerhalb der Lieferkette. Kunden müssen mehrere Monate auf ihr bestelltes Auto warten, Händler befürchten Einbußen im Weihnachtsgeschäft aufgrund verzögerter Verfügbarkeit von Elektronikartikeln. Sind das alles Corona-Folgewirkungen oder spielen auch andere Aspekte eine Rolle?
Mittlerweile herrschen nicht nur Lieferengpässe bei Halbleitern vor, sondern auch bei anderen Vorleistungen, Rohstoffen und anderen Bauteilen. Während bei Halbleitern Corona-bedingt einerseits zu vorsichtige Bestellkontingente der Automobilhersteller und andererseits Nachfragesteigerungen in anderen Industriezweigen zu Engpässen bei der Fahrzeugproduktion geführt haben, lassen sich für andere Vorleistungen und Rohstoffe auch andere Gründe anführen. So sind auch Stahl, Aluminium und Kupfer knapp. Zur Knappheit tragen Transport- und Logistikprobleme sowie Preissteigerungen aufgrund der Engpasssituation bei.
Wie ernst ist die Situation?
Die deutsche Automobilindustrie befindet sich trotzdem aktuell in einer komfortablen Situation mit vollen Auftragsbüchern. Allerdings könnten weitere Lieferverzögerungen zu kostspieligen Produktionsausfällen führen. Die aktuelle Liefersituation bei Vorprodukten und Rohstoffen verteuert darüber hinaus die Vorleistungen, die dann über Preissteigerungen an Kunden weitergegeben werden.
In welchen Bereichen muss man sich in den kommenden Monaten hauptsächlich auf Lieferverzögerungen einstellen?
Anfällig für lange Lieferzeiten sind aufgrund der Halbleiter nicht nur Elektrofahrzeuge, die sowohl bei der Ansteuerung des Antriebs als auch bei weiteren Applikationen für Fahrerassistenz- und Kommunikationssysteme auf Halbleiterelemente angewiesen sind. Auch Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor weisen mittlerweile hohe Elektronik- und Halbleiteranteile auf, wodurch sich auch in diesem Bereich die Liefersituation verschärft.
Können Sie uns anhand konkreter Beispiele illustrieren, von welchen Dimensionen wir sprechen?
Klassischer Weise waren in der Vergangenheit – also in der Prä-Corona-Zeit – Lieferzeiten von 1,5 oder zwei Monaten üblich, wenn das einzelne Fahrzeug kundenspezifisch konfiguriert wurde. Die Lieferzeiten für einzelne Modelle – sofern nicht noch Lagerfahrzeuge zur Verfügung stehen (das dürfte aber aktuell in den seltensten Fällen möglich sein) – liegen bei batterieelektrischen Fahrzeugen demgegenüber aktuell bei drei Monaten und mehr, teilweise bei bis zu 12 oder 14 Monate. So müsste der Polestar 2 aktuell wohl innerhalb von drei Monaten lieferbar sein, während bspw. der Audi e-tron GT wohl eine 12- bis 14-monatige Lieferzeit hat. So könnte man herstellerübergreifend die Liste fortsetzen.
Wie lange wird dieser Zustand noch andauern?
Die Problematik langer Lieferzeiten bei Halbleitern könnte sich im Herbst 2021 bis weit ins Frühjahr 2022 verschärfen – eine weitreichende Entspannung auf den Zuliefermärkten ist im ersten Halbjahr 2022 nicht zu erwarten. Leider ist eine dynamische Skalierbarkeit der Produktion bei Halbleiterelementen nicht möglich. Der Aufbau von Fertigungsanlagen ist zeitaufwändig. Dennoch steigt die Nachfrage nach solchen Bauteilen stetig und progressiv an, denn auch andere Branchen (bspw. Unterhaltungselektronik, medizinische Geräte etc.) benötigen verstärkt solche Bauteile. Aktuell werden nicht zuletzt deswegen weltweit Produktionskapazitäten für Halbleiterelemente aufgebaut – auch in Europa. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Engpässe ab 2022 sukzessive auflösen – wenngleich nicht gänzlich. Bei anderen, vorrätigen Vorprodukten und Rohstoffen, die zwar vorhanden sind, allerdings aufgrund von Logistik- und Transportproblemen aktuell nicht lieferbar sind, dürfte sich die Situation dagegen bis in Frühjahr wieder entspannen – die Preise für solche Lieferumfänge werden aber aufgrund der Knappheit steigen.
Welche Maßnahmen werden die betroffenen Unternehmen ergreifen, um zu retten, was noch zu retten ist?
Möglicherweise werden Hersteller und Zulieferer hinsichtlich ihrer Just-in-Time und Just-in-Sequence-Strategien zum Umdenken genötigt und Lager für relevante Bauteile aufbauen, um zumindest in Extremsituationen lieferfähig zu bleiben.
Welche Folgen müssen wir außer Ärger bei Kunden noch befürchten?
Zu berücksichtigen ist, dass nicht nur Automobilhersteller unter dieser Situation mit Lieferengpässen leiden, sondern insbesondere auch die Zulieferer und der Automobilhandel. Denn Händler können bereits bestellte Fahrzeuge nicht ausliefern – und sie generieren eben erst bei Auslieferung Umsatz und Ertrag.
Zulieferer können hingegen bei Abhängigkeiten ihre Produkte nicht fertigen – und sofern keine Abhängigkeiten zu Vorprodukten bestehen, dennoch ihre Abnehmer auf der Herstellerebene bei Produktionsstopps nicht beliefern. Dies könnte zu einer ruinösen Spirale bei Zulieferern und auf der Handelsebene führen.
Wir bedanken uns für das Gespräch.
Prof. Reindl (IfA): „Engpässe bei Halbleitern treffen nicht nur E-Autos“
11 Nov. 2021
Corona ist nicht der einzige Faktor, der zu den derzeitigen tiefgreifenden Problemen in der Lieferkette beiträgt. Dies erläutert Prof. Dr. Reindl vom IfA in Geislingen im Gespräch mit TRT Deutsch. Mit Entspannung rechnet er frühestens 2022.
TRT Deutsch
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